Stanisława Tkacyk geb. Goliat

geb. 19.09.1927 in Warschau,

Teilnahme am Warschauer Aufstand 1944.

Ravensbrück: September 1944, ab Oktober 1944 Außenlager Königsberg-Neumark – Februar 1945

zurück nach Ravensbrück, KZ Jugendlager Uckermark,

April 1945 Befreiung durch das Schwedische Rote Kreuz, gemeinsam mit ihrem erst wenige Tage alten, in Ravensbrück geborenen Sohn

Stanisława Tkacyk
Stanisława Tkacyk

Stanisława erzählt in einem Interview:

„Meine Generation hat wohl das Schlimmste erlebt. Wir waren noch Kinder, als der Krieg ausbrach. Dann fünf Jahre Besatzung. Ich sollte im September 1939 beginnen, ein Musikkonservatorium zu besuchen. Früher ging ich in eine private Schule, ich bestand die Prüfung für das Konservatorium. Leider schlossen die Deutschen alle Schulen, man durfte nur die Grundschule zu Ende machen. Lernen konnte man nur im illegalen Gruppenunterricht – kleine Gruppen von Jugendlichen trafen sich in Häusern. Es war immer sehr gefährlich, man konnte verhaftet und ins Lager gebracht werden. Polizeistunde, Straßenrazzien, wir hatten Angst, das Haus zu verlassen.

Und dann der schreckliche Aufstand – Luftangriffe, Bomben, die ständige Angst um das eigene Leben. … Mein Mann trat der Aufstandsgruppe Kampinos bei. …

Wir haben in einem der Warschauer Keller geheiratet – so war es während des Aufstands üblich. Wir wussten damals nicht, ob und wie lange wir noch leben würden. Jede Stunde drohte der Tod, und wir wollten zusammen sein. (…) Wir waren jung, verliebt – das war unsere erste Liebe....

„ Wir haben alle gekämpft, die ganze Zivilbevölkerung. Wir organisierten Lebensmittel für ältere Personen, wir hoben Schützengräben aus. Unser Haus war völlig verbrannt, wir flohen in ein anderes Gebäude und dort, im Keller, verbrachten wir fast zwei Monate. Es mangelte an Wasser. Um es zu holen, musste man über eine Straße gehen, die von Deutschen beschossen wurde. Da gruben wir, junge Menschen, tiefe Tunnel. Mit der ausgegrabenen Erde machten wir einen Wall, damit man uns beim Rübergehen nicht sieht. Besonders schwierig war es mit den Lebensmitteln – der Aufstand dauerte lange und wir mussten das Essen in Hungerportionen aufteilen. Nach einiger Zeit gab es nicht mal das. Einmal hat meine Schwester beschlossen, mit ihrer Freundin Äpfel zu pflücken. Es wurde gerade nicht geschossen. Aber als sie näher an einen Apfelbaum traten, eröffneten Deutsche das Feuer. Wir standen und schauten zu – wir konnten nichts machen, denn sie schossen ununterbrochen. Wir sahen sie beide auf dem Boden liegen. Ich wollte sofort zu meiner Schwester laufen, aber ich wurde gestoppt. Später, als es ruhiger wurde, krochen wir zu den Mädchen und retteten sie. Sie überlebten glücklicherweise, aber sie waren schwer verletzt. Wir bauten schnell eine Trage zusammen und haben sie in die Słowacki-Straße getragen. Dort befand sich in einem Schulkeller ein Krankenhaus der Aufständischen. Meine Schwester lag die ganze Nacht im Sterben. Die Ärzte sagten, dass der Bauch von einer Kugel getroffen wurde, die im Inneren zersplittert, und dass man nichts mehr machen kann. Wir saßen mit der ganzen Familie bei ihr. Leider ist sie gestorben. Wir haben sie im Garten begraben, und erst nach dem Krieg die Leiche exhumiert. Ihre Freundin war leichter verletzt, sie hat´s überlebt.

„… Als wir Warschau verlassen mussten, gingen wir wortwörtlich über Leichen. Ich erinnere mich: als wir vorbeigingen, sah ich eine tote Frau mit einem Kind auf dem Arm. Wir bemerkten, dass dieses Kind noch seine Augen bewegte, aber wir durften nicht näher treten. Ich wurde von bewaffneten Deutschen überwacht. Dann gingen wir an einem Feld vorbei, wo Tomaten reiften. Es kam gar nicht in Frage, sie zu pflücken und zu essen. Und wir waren so hungrig.

Wir kamen in ein Übergangslager in Pruszków. Ich erinnere mich, wie die Menschen riefen, wie sie sich in der Menge suchten. Von da wurden die Menschen in die Lager transportiert. … Wir wurden aus Pruszków in Viehwaggons in einem unheimlichen Gedränge transportiert. Wir konnten unsere Notdurft nicht verrichten. Der Zug war umgeben von bewaffneten, jederzeit zum Schießen bereiten Soldaten. Erst nach einigen Tagen wurde ein Halt angeordnet und wir durften für eine Weile die Waggons verlassen. Sie haben uns schlechter behandelt als Tiere. Wir wussten nicht, wohin wir fahren. Sie sagten uns, dass wir arbeiten werden.

Als wir ankamen, stellte sich heraus, dies war ein Konzentrationslager! Alle weinten und jammerten. Und die Begrüßung – ein Spalier von Aufseherinnen und Wächtern mit Waffen und großen Hunden, die sich herumbalgten, bellten und in unsere Richtung laufen wollten. Wir waren durchgefroren, erschrocken, wir wussten nicht, was wir machen sollten. Eine der Frauen sagte zu uns: „Das ist ein Konzentrationslager, wir werden da nicht mehr herauskommen.“ Entsetzen – wir waren doch jung, schön, gesund. In diesem Moment begann unsere Tragödie. Wir wurden in eine Baracke gedrängt, wo wir zu zweit oder zu dritt auf einer Pritsche schlafen sollten.

Nach einer Quarantäne, im Oktober, wurden wir mit einer Gruppe von circa 900 Polinnen vom Warschauer Aufstand aus Ravensbrück zu einem Nebenlager Königsberg-Neumark abtransportiert, um dort bei dem Bau eines Militärflughafens zu arbeiten. In diesem Lager gab es außer den neuangekommenen Polinnen auch Russinnen und Französinnen. Dort war es schrecklich. Die Toiletten waren draußen, in den Baracken gab es nur ein Quasiwaschbecken mit kaltem Wasser, keine Seife, das Waschen kam gar nicht in Frage. Überall liefen Läuse und Ungeziefer, wir waren ganz zerstochen. Abends haben wir in einem kleinen Ofen Feuer gemacht – wir brachten ein bisschen Holz aus dem Wald. … Nach ein paar Monaten im Lager konnten wir unsere Bekannten, mit denen wir aus Warschau gekommen waren, nicht wieder erkennen. Wir sahen wie menschliche Skelette aus. Wir waren schön, jung, gesund, begabt und man hatte aus uns menschliche Wracks gemacht, die nichts zu sagen haben, die man jederzeit erschießen kann. Hunger, Heimatlosigkeit, durchdringende Kälte.

image
Stanisława Tkaczyk (links) mit einer Freundin

Fast bis vor Weihnachten trugen wir nur leichte Kleider. An manchen Tagen betrug die Temperatur minus 25 Grad Celsius. Ich habe zum Glück überlebt, aber viele Frauen sind erfroren. Wir arbeiteten draußen, die nassen Kleider trockneten auf unseren Rücken. Morgens vor dem Abmarsch zur Arbeit standen wir während des Appells ungefähr drei Stunden barfuss im Schnee und Regen.

Einmal kam eine Gruppe deutscher Soldaten von der Front und sie haben uns mit Waffen bewacht. Wir durften mit ihnen nicht sprechen, aber einer von ihnen konnte ein bisschen polnisch und fragte mich: „Was habt ihr ihnen Schreckliches angetan, dass sie euch hier so quälen?“ Ich antwortete: „Nichts, wir sind einfach Polinnen. In Warschau gab es einen Aufstand, wir haben verloren und wurden hierher gebracht.“ Er war ergriffen, er konnte es nicht glauben. Er sagte mir, dass ich meine Schüssel irgendwo beiseitelegen sollte, dann lässt er mir Handschuhe und ein belegtes Brot. Sie durften an uns nicht näher herankommen, weil wir noch von Aufseherinnen bewacht wurden. Ich bekam tatsächlich von ihm die Handschuhe. … Dann zeigte es sich, dass diese Soldaten intervenierten und dank ihnen haben wir vor Weihnachten zusätzliche Mäntel bekommen.

Jeden Morgen gab es um 4 Uhr einen Appell. Die Stubenaufseherin schlug uns beim Wecken mit einem Stock, wo sie nur konnte. Manche Frauen fielen während des Appells in Ohnmacht und sie lagen solnge im Schlamm, bis das Zählen beendet wurde. Dann standen wir auf dem Platz bis zum Sonnenaufgang. Erst als es hell wurde, bildete man Kolonnen und ging an die Arbeit.

In Königsberg gingen wir vier Kilometer zum Wald – zuerst arbeiteten wir bei der Rodung, dann bei der Planierung des Bodens für einen Flughafen. Beim Gehen hielten wir uns an den Händen, um uns zu wärmen und um nicht zu fallen. Diejenigen, die in der Mitte der Kolonne gingen, dösten unterwegs. Die Arbeit war unheimlich schwer. Die Werkzeuge froren uns an den Händen an. Wir wurden ständig gehetzt, … Das Essen, das sie uns brachten, war schrecklich – zwischen den Zähnen knirschte Sand, an der Oberfläche schwamm Ungeziefer, und außerdem war die Suppe immer kalt. Mittags ein halber Liter Suppe und eine Scheibe Brot – das war eine Portion für eine Person. Der Magen knurrte stark vor Hunger. Manchmal fanden wir während der Arbeit eine alte Kartoffel oder eine Rübe. Trotz großer Gefahr schmuggelten wir sie ins Lager. In der Baracke hatten wir eine provisorische, aus einem Blechstück gemachte Reibe. Wir rieben die Kartoffel und warfen sie in heißes Wasser, das wir in unseren Schüsseln erwärmten. Das war so lecker. Jede wollte ein bisschen essen, wir teilten das ergatterte Essen. Die warme Schüssel drückten wir an unsere nasse Kleidung, damit sie bis zum Morgen trocknet. Der schönste Moment des Tages war die Rückkehr in die Baracke. Wir konnten uns erholen und uns an dem Ofen wärmen. Abends bekamen wir ein Stück Brot und irgendein dünnes Getränk – das sollte angeblich Kaffee sein. Wir aßen das Brot sehr langsam, wir teilten es. Wir sahen zu, dass kein Krümelchen runter fällt oder verschwendet wird.

Es gab unter uns Aufrichtigkeit, Solidarität, wir teilten alles, wir versuchten einander zu helfen, zumindest mit einem guten Wort. Abends vor Weihnachten erzählten uns die älteren Frauen, was sie zu dieser Zeit in ihren Häusern backen und kochen. Ich erinnere mich, dass einmal eine von den Zuhörerinnen um ein Rezept für Sandkuchen gebeten hatte. Sie sagte, wenn sie überlebe, dann backe sie diesen Kuchen sofort nach der Befreiung. Eine andere sagte wiederum, dass wenn sie zurückkomme, dann mache sie eine Suppe aus geriebenen Kartoffeln, aber mit Grieben. Wir trösteten uns, wie wir nur konnten.

Im Februar 1945, als sich die russische Armee näherte, wurden wir 120 Kilometer zu Fuß zurück ins Lager Ravensbrück getrieben. Man musste aufpassen, dass man nicht zurückbleibt, sonst schossen sie. Diejenige, die den Marsch verlangsamte, kam nicht mehr in die Kolonne zurück. So war es mit unserer Freundin, Marta. Wir schleppten also eine die andere, um zu überleben.

Ich erkrankte schwer an einer Rippenfellentzündung. Ich war sehr schwach, so wurde ich während der Selektion ins *KZ - Jugendlager Uckermark *geschickt, wo Häftlinge gesammelt wurden, die man umbringen wollte. Dort saß auch Halina Walczuk mit ihrer Mutter. Das war ein Lager in der Nähe von Ravensbrück, das man nicht mehr verließ. Ich wurde dorthin gebracht, als ich nicht mehr gehen konnte. Meine Beine sahen wie Stöcke aus, und die Füße waren unglaublich geschwollen. Während der Selektion wurde ich beiseite gestellt, man sagte, dass ich nicht mehr arbeiten könne. Wir krochen auf allen vieren, weil wir keine Kraft mehr hatten. Wir schliefen auf dem Boden auf Stroh. Die Frauen, die ich dort traf, erschraken, als sie mich sahen – bald sollte meine Entbindung sein. Sie sagten zu mir: „Kind, diesen Ort verlässt man durch einen Schornstein. Aber wir versuchen, dich zu retten.“ Das waren Krankenschwestern. In Kürze sollten Kranke nach Ravensbrück abtransportiert werden. Sie haben es geschafft, mich irgendwie dazu zu schmuggeln und ich kam in den Revierblock im Lager. Dort war es umso besser, weil man nicht für Morgenappelle aufstehen musste.

Mein Kind wurde gegen Kriegsende geboren – nur deswegen hat mein Kind überlebt. Nach der Geburt sahen mein Sohn und ich schrecklich aus. Das Kind war winzig, nur Haut und Knochen. Sie wollten es mir wegnehmen und töten, aber zum Glück näherte sich die Front, es kam zu einer Verwirrung. Ich hatte einige Kinderkleider, die ich im Lager für ein Stück Brot gekauft hatte, aber im letzten Moment wurden sie gestohlen. Als mein Sohn zur Welt kam, hatte ich nichts für ihn. … Später organisierten die Frauen für mich irgendwelche Kleider von gestorbenen Kindern. Im Lager kamen 800 Kinder zur Welt, überlebt haben nur 29. Das war ein richtiges Wunder. Heutzutage leben in Polen etwa acht Personen, die in Ravensbrück geboren wurden. Unter ihnen mein Sohn.

Ein paar Tage nach der Geburt fuhren wir nach Schweden. Das hat uns gerettet. Zunächst lag ich mit meinem Sohn drei Monate in einem Krankenhaus. Wir hatten eine Bluttransfusion. Danach, als wir uns besser fühlten, schickte ich über das Rote Kreuz eine Nachricht nach Polen. Ich schrieb, wo ich bin, dass ich einen Sohn geboren habe und dass wir beide eine sehr gute Betreuung haben. …

Mein Mann suchte mich in ganz Deutschland, und ich war in Schweden. Ich wollte zurückkehren, ich sehnte mich sehr nach meiner Familie, nach meiner Heimat, obwohl ich wusste, was mich dort erwartet – ich habe das brennende Warschau gesehen, … Zurück in Warschau: „ Ich wollte sehr gern lernen. Ich habe das Abitur nachgeholt – ich hatte lauter Einsen – und die Aufnahmeprüfungen für ein Jurastudium bestanden. 1952 kam unser zweites Kind – ein Mädchen, zur Welt. … Und dann kam mein Mann bei einem Unfall ums Leben. Er kehrte von der Arbeit zurück und wurde von einem Auto überfahren. Er starb auf der Stelle, er war 36 Jahre alt. Nach dem Tod meines Mannes blieb ich allein mit zwei Kindern und mit einer kranken Tante, sie war wie eine Mutter für mich. Ich betreute sie. Dann kam mein Papa zurück. Er war in Treblinka, dann in Sachsenhausen. Er zog auch bei uns ein. Ich betreute vier Personen, das ist eine riesige Verantwortung. Ich dachte nicht an mich, sondern an sie. So ist mein Charakter – ich bin vielleicht ein bisschen überfürsorglich. Ich erlebe alles sehr stark, was meine Familie betrifft. Die Kinder sagen mir manchmal etwas nicht, damit ich mir keine Sorgen mache.“

(Quelle: Vor dem Vergessen bewahren – meine Erinnerungen an Ravensbrück, Hrsg.: Ja Kobieta Fondation for women, Warschau, 2010)

Stanisława Tkacyk hat sich viele Jahre im Warschauer Ravensbrück Klub engagiert. Nach den Worten von Hanna Nowakowska war sie eine großartige Freundin, überaus freundlich, sozial engagiert für Andere und viele Jahre lang die „Finanzministerin“ des Ravensbrück Klubs.