Eine aufrechte Lebensretterin

12.06.2023
Zum 100. Geburtstag der französischen Widerstandskämpferin und KZ-Überlebenden Marie-Jo Chombart de Lauwe

Florence Hervé

Sie war 17 Jahre alt, als die Nazis in Frankreich einmarschierten. Die Besatzung, die Kollaboration und den Antisemitismus konnte sie nicht akzeptieren. An diesem Mittwoch begeht Yvette Wilborts, die mit dem Kampf in der Résistance den Ehrennamen Marie-Jo erhalten sollte, ihren 100. Geburtstag. Sie wählte den aufrechten Gang für Gerechtigkeit und Freiheit. Ihre Kindheit verbrachte sie in Paris, mit 13 Jahren ging sie auf eine für Pariser Flüchtlinge neu gegründete Schule nach Tréguier in der nördlichen Bretagne. Ihre freiheitsliebenden Eltern lebten inzwischen auf der Insel Bréhat, der Vater war Kinderarzt und Maler, die Mutter Hebamme. Zu Hause hörte man den verbotenen Sender Radio London. Nach dem Aufruf Charles de Gaulles zum Widerstand im Juni 1940 hatte sich unter Führung von Wilborts Mutter die Gruppe »La Bande à Sidonie« gegründet. Deren Mitglieder bemühten sich im Auftrag des britischen Geheimdienstes um Informationen über die deutsche Küstenverteidigung. Erste Überfahrten nach England wurden organisiert. Als Inselbewohnerin besaß Yvette Wilborts einen Sonderausweis, um auf dem Weg von Bréhat nach Rennes, wo sie seit 1941 Medizin studierte, durch die Sperrzone zu gelangen. Diesen Sonderstatus nutzte die Studentin und half Antifaschisten sowie Engländern, die das besetzte Frankreich verlassen wollten, zur Flucht. Yvette Wilborts alias Marie-Jo prägte sich die militärischen Festungsbauten am Atlantik ein, die dann von ihrem Vater skizziert wurden. Sie brachte die geheimen Dokumente über die Küstenverteidigung nach Rennes, zum Leiter der Fluchthilfeorganisation. Im Mai 1942 wurden die 14 Mitglieder der Widerstandszelle denunziert. Marie-Jo und ihre Mutter wurden 1943 von den Nazis in das Lager Ravensbrück deportiert, als sogenannte NN-Häftlinge im Rahmen des »Nacht- und Nebelerlasses« von Dezember 1941. Marie-Jo war bei ihrer Deportation gerade 20. Zunächst im Siemens-Werk, später im »Kinderzimmer« zur Arbeit gezwungen, gelang es der jungen Frau, Kleinkindern das Leben zu retten, von den 500 Neugeborenen überlebten etwa 40. Es war »die schrecklichste und schmerzhafteste Zeit meines Lebens«, wird die Widerstandskämpferin später sagen. Sie wurde auch Zeugin von medizinischen Menschenversuchen sowie der Sterilisierung von Romnja und Sintizze. Die Befreiung erlebte sie 1945 im KZ Mauthausen. Später war sie eine der Zeugen in einem der Rastatter Prozesse, dem gegen den Lagerkommandanten von Ravensbrück, Fritz Suhren. Auch ihre Mutter überlebte die Hölle des Konzentrationslagers, ihr Vater kehrte nicht aus Buchenwald zurück, er wurde dort ermordet. Nach dem Krieg widmete Marie-Jo sich der Forschung in der Kinderpsychiatrie. Sie heiratete den Soziologen Paul-Henry Chombart de Lauwe und bekam vier Kinder. Den humanen Werten der Résistance blieb sie treu, engagierte sich gegen die Folter, ob im Algerien-Krieg oder anderswo, gegen Rassismus und Revisionismus, hielt Vorträge an Schulen. Bis ins hohe Alter kämpfte sie gegen die Bagatellisierung der Naziverbrechen, gegen jede Rehabilitierung des Faschismus und für die Erinnerung an die Résistance. »Sie ist heute müde, sehr müde, aber heiter«, weiß Marie-France Cabeza-Marnet in diesen Tagen zu berichten. Sie ist Schatzmeisterin des Internationalen Ravensbrück-Komitees und Vertreterin der Amicale de Ravensbrück, ihre widerständige Mutter war selbst Ravensbrück-Deportierte. Marie-Jo Chombart de Lauwe lebt seit vergangenem Dezember in der Institution Nationale des Invalides, einer Pflegeeinrichtung des französischen Staates für ehemalige Widerstandskämpferinnen und Kriegsversehrte. Cabeza-Marnet hatte ihr kurz nach dem Jahrestag der Befreiung drei Rosen mitgebracht, »die Ravensbrück-Rosen der Hoffnung, der Freiheit und des Friedens«. Es sind »Symbole, die unseren Überlebenswillen und Widerstand zeigen«, hatte Marie-Jo Chombart de Lauwe während ihrer Zeit als Präsidentin der Stiftung für die Erinnerung an die Deportation (1996–2018) erzählt. An dieser Stelle schrieb die Autorin zuletzt am 5. April über die algerische Widerständlerin Eugénie Djendi. Florence Hervé ist Herausgeberin von »Mit Mut und List. Europäische Frauen im Widerstand gegen Faschismus und Krieg«, Verlag Papyrossa, 3. Aufl., Köln 2022

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